Quieto - Eine Nachtigall, die nicht singen kann

Wieder einmal war es Sommer. Hans lag noch im Bett und träumte schlaftrunken vor sich hin. Die mollige Decke, in die er sich am Abend fröstelnd eingehüllt hatte, wärmte auch jetzt noch seinen Körper. Die Sonne lachte am Fenster und von draußen drang der melodische Gesang der Vögel in sein Zimmer.

Er liebte die Vögel, obschon diese ihn oft nachdenklich stimmten. Wie oft hatte er sich nicht schon gewünscht, frei wie ein Vogel zu sein. Doch war er andererseits froh, bei Regen und Sturm stets ein festes Dach über sich zu haben. Und dann war da noch die Nachtigall, die es nicht gab, obwohl er sich aufs Innigste mit ihr verbunden fühlte. Das Geheimnis um Quieto - so hatte er diese Nachtigall genannt - wollte Hans mit niemandem teilen. Jetzt, da der Morgen dämmerte, dachte er wieder an Quieto.

Ihr dunkles Gefieder strahlte ein Gefühl der Wärme aus, und die rötlichen Schattierungen glänzten im Sonnenschein. Auch hatte sie den elegantesten und schnellsten Flug unter ihren Artgenossen. Trotz dieser Eigenschaften fühlte sie sich einsam und verlassen, denn Quieto war stumm. Niemals hörte man im Morgengrauen ihren Gesang. An all das dachte Hans jetzt wieder und noch an vieles mehr. Er versuchte, sich an seine erste Begegnung mit Quieto zu erinnern.

Damals hatte er sich ungerecht behandelt gefühlt, doch war er zu klein gewesen, um seinen Worten genügend Nachdruck zu verleihen. Weinend rannte er in sein Zimmer und warf sich aufs Bett. Nach einer Weile hörte er draußen den Gesang der Vögel. In diesem Augenblick, als die Welt für ihn unterzugehen schien, hatte er sich mit Quieto angefreundet.

Hans und Quieto hatten vieles gemeinsam. Beide waren klein und unterlegen. Quieto konnte und Hans durfte nicht reden. Durch dieses gemeinsame Schicksal fühlte sich Hans tief im Herzen mit Quieto verbunden. Immer, wenn Alltagssorgen ihn plagten, wandte er sich seinem kleinen Freund zu, von dem er sich verstanden fühlte. Quieto hatte es stets wieder geschafft, Licht in seine dunkle Welt zu bringen.

Quieto tröstete Hans immer, obwohl sie es in Wirklichkeit war, die es zu trösten galt. Hans hatte zwar oft Kummer, doch handelte es sich dabei stets um Kleinigkeiten. Er bemerkte erst als er größer wurde, dass ihm nur etwas Mut fehlte, um mit den Ungerechtigkeiten des Lebens fertig zu werden. Hans hatte Mitleid mit Quieto. Sie hatte ihm den Mund geöffnet, jedoch konnte er ihr nicht helfen. All diese Gedanken beschäftigten ihn auch jetzt wieder, als er verträumt in seinem Bett lag. In seiner Gedankenwelt führten Hans und Quieto die tollsten Gespräche.

Dann fiel sein Blick auf den Wecker und Hans bemerkte, dass es höchste Zeit zum Aufstehen war, wenn er nicht zu spät zur Schule kommen wollte. Schnell wusch er sich durch das Gesicht und kleidete sich an. Quieto blieb wiederum alleine zurück…

Text: Roger Rauw - Zeichnungen: Danny Gassmann