Auch Blinde können leben
Sich behäbig nach vorne tastend ging er schweren Schrittes durch die Strassen der Stadt, die er seit frühester Kindheit gründlich erforscht hatte. Mit seinem Schicksal hatte er sich längst schon abgefunden, weil er genau wusste, wie es um ihn stand. Niemals würde er wieder der Stadtlichter Glanz aufleuchten sehen. In seinem Innersten sah er das Abbild der City, so wie er glaubte, dass sie vor 14 Jahren ausgesehen hatte. Damals hatte er im zierlichen Alter von acht Lenzen noch mit seinen Kameraden herumgetollt.
Als er dann innerhalb von nur zwölf Monaten sein Augenlicht verlor, glaubte er, eine Welt ginge für ihn unter.
Wenn dem auch so gewesen war, hatten sich ihm damals dennoch Horizonte aufgetan, die ihm bis dahin stets verborgen geblieben waren. In seinen Gedanken hatte er Bauten konstruiert, die keineswegs zu Luftschlössern entartet waren, obwohl sie dem irdischen Blick verborgen blieben. Er lebte nämlich in einer Welt, die einer Vielzahl von Menschen fremd war und stets fremd bleiben würde.
Er war glücklich und zufrieden, weil er die Antworten auf so viele, scheinbar unlösbare Fragen wusste.
Er lebte, bis er starb.
Roger Rauw
27. Dezember 1986