Er und der Tod (Teil 3)

Inzwischen sind mehrere Jahre vergangen.
ER sitzt als betagter Mann am Fenster
und sieht gedankenverloren nach draussen.

Es ist Winter.
Obschon er eigentlich behaglich im geheizten Zimmer sitzt,
spürt ER dennoch die Kälte,
die von draussen auf ihn einwirkt.

In seinen Gedanken blickt er zurück auf
siebenundsiebzig Jahre seines Lebens ...

Er:
Als ich an einem Tage
Das Licht der Welt erblickt',
Warn viele, ohne Frage,
Darüber hoch entzückt.

Ich wuchs auf in der Familie
Mit einem Schwesterlein,
Des Vaters und der Mutter Liebe:
Ich konnt' zufrieden sein!

Ich ging zum Kindergarten
Und kurz darauf zur Schul';
Mein Hobby war das Karten,
Beim Skat war ich recht cool.

Nach Abitur und Studium
Kam dann die grosse Wende,
Denn seitdem blieben um mich herum
Keine schützenden Hände.

Ich musste eigene Wege gehen,
Allein durch Leid und Beruf;
Ich konnte vieles ganz anders sehen,
Anders als Gott es einst schuf.

Dann fand ich die Frau fürs Leben,
Die ich von ganzem Herzen liebte;
Und unser ganzes Bestreben
War unsre Kinder zu erziehen.

Wir erlebten dann
Glück und auch Zufriedenheit;
Wenn auch dann und wann
Uns trafen Kummer und Leid.

Wir wurden schliesslich älter,
Die Kinder verliessen uns zwei;
Das Leben wurde kälter,
Das erste Glück war nun vorbei!

Die Kinder besuchten uns häufig,
Und sie munterten uns auf;
Wir empfingen sie immer freudig,
Alles ging wieder bergauf.

Nun stehen wir an der Wende,
Ich muss bald von euch gehn;
Doch an meines Lebens Ende
Sag' ich euch, es war schön.

Ihr schenktet mir sehr viel Freude
Und viele Tage voller Glück;
Das erkenn' ich, wenn ich heute
Auf diese Zeit blicke zurück.

Meine Kinder, weint bitte nicht um mich,
Wenn ich auch bald von euch geh';
Vergesst eure eigenen Kinder nicht,
Macht ihnen das Leben schön.

Dir, meiner Frau und Liebe,
Sei Dank für die schöne Zeit;
Durch Humor ohne Lüge
Hast du mich immer erfreut.

Bitte Gott um Beistand,
Und du wirst schon recht bald sehn:
Mit ihm an deiner Hand
Wirst du alles überstehn.

Plötzlich hört man ein lautes Poltern.
Gleichzeitig schlägt die Haustür auf,
und der Tod tritt über die Schwelle.
Mit seiner unverkennbar rauhen Stimme und seinen höhnischen Worten
lässt er auch keine Zweifel in bezug auf seine Person aufkommen.

TOD:
Hallo, mein alter Kamerad,
Auch heut wollt' ich dich besuchen;
Denn leise hört' ich dich gerad'
In deinem Innersten fluchen.

ER:
Zuletzt kamst du ziemlich oft;
Ich hab' ein Problem mit dem Herzen;
Innerlich hatte ich gehofft,
Dass du nicht gesehn meine Schmerzen.

TOD:
Ich weiss, du brauchst mir nichts zu sagen,
Ich komme, dir Beistand zu leisten;
Denn Schmerzen sind leichter ertragen
Mit guten Freunden an der Seite.

ER:
Du schmeichelst dich bei mir ein,
Da kann doch was nicht stimmen;
Willst du Sieger sein?
Ja, willst du heute gewinnen?

TOD:
Du bist noch immer klug und hell,
Doch das wird dir nichts nützen;
Heut kommt unser letztes Duell,
Und niemand wird dich schützen.

ER:
Ich glaub', was du sagst, ist wirklich wahr,
Denn mein altes Herz schlägt schwach;
Ich glaube, es besteht die Gefahr,
Dass du am Ende noch lachst.

Pass auf, mein Freund, es kann ja sein,
Dass du dich wiederum irrst;
Vielleicht bin ich nicht ganz allein,
Und du bist es, der vertiert.

Dann bricht Er das Gespräch mit dem Tod ab
und beginnt zu beten :

ER:
Ich glaube an Gott, den Schöpfer des Alls,
Den Vater von Himmel und Erde;
Ich glaube, dass er im Todesfall
Mir seinen Beistand leisten werde.

Ich glaub' an Christus, seinen Sohn,
Empfangen durch den Geist,
Der uns als unseren Lohn
Das Gottesreich verhelsst.

Ich glaube auch, dass Pilatus
Christus verurteilt hat.
Ich glaub', dass jeder wie Christus
Das gleiche Schicksal hat.

Er starb am Kreuz, wurde begraben,
Stieg hinab in des Todes Reich;
In allen Ängsten und Gefahren
War er immer uns Menschen gleich.

Am dritten Tage fuhr er dann
Glorreich in den Himmel auf;
Dies ist, so hoff' ich, irgendwann
Auch unseres Lebens Lauf.

Nun sitzt zur Rechten Gottes er
Als Herrscher über Leben und Tod;
Ich glaube auch, dass Jesus Herr
Ist über jede Furcht und auch Not.

Ich glaube an den Heiligen Geist,
Der in unserm Herzen wohnt;
Ich glaube, dass er uns Glück verheisst
Und dass Gott uns einst entlohnt.

TOD:
Sieh an, er bekennt seinen Glauben
An diesen gewissen Gott;
So wie all jene, die nichts taugen
In den Stunden grösster Not.

ER:
Es stimmt, dass viele an Gott sich erinnern
In Zeiten grösster Not
Und dass auch viele sich erst um ihn kümmern,
Wenn ihnen Unheil droht.

Doch Gott hilft auch all jenen,
Die ihn vergessen lange Zeit;
Wenn sie sich schliesslich bekehren,
Wird er ihnen sicher verzeihn.

TOD:
Mein Freund, ich verstehe dich nicht,
Du bist doch sonst recht gescheit;
Sag mir, worauf berufst du dich,
Gib mir den Gottesbeweis?

ER:
Ich brauch' keinen Beweis zu haben,
Weil auf Hoffnung mein Glaube beruht;
Ich sehe Leid, Not und Gefahren
Und hoffe, alles wird einmal gut.

TOD:
Du bist ein steter Optimist,
Doch das hört bald schon auf;
Gleich, wenn niemand mehr bei dir ist,
Geht dein Lebenslicht aus!

ER:
Der Töd - ich kann darauf was geben,
Nimmst du die Wette an -
Ist erster Wimpernschlag zum Leben,
Ich glaube fest daran.

TOD:
Wenn du gleich deine Augen schliesst,
Erlischt dein Licht für immer;
Und wenn du noch so gläubig bist,
Niemand kann das verhindern!

ER:
Ich spüre, mein Herz schlägt auf einmal so schwer,
Ich glaube, das Ende beginnt;
Der Blick meiner Augen wird langsam so leer,
Ich spür', wie die Zeit nun verrinnt.

Ihr Ärzte und ihr Pfleger,
Haltet ein, es hat keinen Zweck;
Ich geh nun eigne Wege,
Bitte bleibt alle von mir weg!

Ihr wollt mir Hilfe spenden,
Doch die kommt jetzt viel zu spät;
Vereint doch eure Hände
Zu meinem Abschiedsgebet.

Die ewige Ruhe, mein Gott, gib sie mir,
Mir leuchte das ewige Licht;
Gott, ich fühle, du bist auch heut wieder hier:
Ach, bitte Herr, verlass mich nicht.

Den Geist leg ich in deine Hände;
Halte, mein Gott, bitte halt ihn fest,
Mache dem Tod ein schnelles Ende,
Auf dass er mich bald in Ruhe lässt.

Und zum Tod gewandt spricht er:

ER:
Dein Sieg ist nicht von sehr langer Dauer,
Dessen kannst du sicher sein;
Du liegst zwar schon lange auf der Lauer,
Doch Gott wird mich befrein.

Nach oben blickend ...

ER:
Vater, meinen Geist
Leg' ich in deine Hände;
Bring, wie du verheisst,
Bald die erhoffte Wende.

TOD:
Alle werden dich gleich verlassen,
Wenn dein Weg zu Ende geht,
Hör daher auf, mich so zu hassen;
Ich bin es, der dich versteht.

Während der Tod ihn in die Arme nimmt, sagt er:

TOD:
Dein ganzes Leben spielte ich
Mit dir ein gefährliches Spiel;
Dein ganzes Leben wusste ich,
Es würde dir einmal zuviel.

Nun ist es endlich mal soweit,
Dass abgerechnet wird;
Für dich ist nun die Schau vorbei,
Du bist es, der verliert.

Dies sollte eine Warnung sein
Für alle Menschen der Welt:
Ich lege euch ins Grab hinein,
Wann immer es mir gefällt.

Ein letztes Mal schlägt Er die Augen auf.
Weil der Tod ihn vor lauter Siegessicherheit schon aufgegeben hatte,
entgleitet er dessen Griff.

Vor Freude strahlend jubelt Er:

ER:
Ich hör' den Klang der Posaunen,
Ich sehe der Erzengel Schein,
Tod, ich fühl', du wirst gleich staunen,
Bald werde ich beim Vater sein.

Beinahe hattest du mich fest im Griff,
Du strahltest vor Freude, gewiss;
Wie ein Matrose auf sinkendem Schiff
Entkam ich gerade deiner List.

Tod, wo ist denn dein Stachel ?
Tod, wo ist denn dein Sieg ?
Tod, du brauchst nicht zu lachen,
Tod, ich fürchte dich nie !

Als er dies gesagt hat,
entschwindet Er für immer dem Blick des Todes,
um an der Seite seines Vaters
in das Reich des ewigen Lebens einzutreten.

Roger Rauw
29. Januar 1987 - 08. Januar 1990